Auf der Suche nach einer evolutionären Zeitmaschine
Forschende sind den Geheimnissen der Anpassung an neue Lebensräume auf der Spur
Ein interdisziplinäres Team von Forscherinnen und Forschern hat Erkenntnisse aus den Gebieten der prähistorischen DNA, evolutionären Genomik und Geologie zusammengeführt, um zu verstehen, wie sich im Meer lebende dreistachlige Stichlinge vor 12.000 Jahren an die Lebensbedingungen in Süßwasserseen angepasst haben.
Dreistachlige Stichlinge sind Experten für Anpassung und helfen Biologen und Biologinnen dabei zu verstehen, wie Lebewesen sich evolutionär auf geänderte Umweltbedingungen einstellen. Als die Gletscher am Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 bis 20.000 Jahren schmolzen, entstanden neue Süßwasserhabitate, die von Stichlingen aus dem Meer besiedelt wurden. Diese passten sich an eine völlig neue Umwelt an. Dies geschah wiederholte Male an zahlreichen Orten der gesamten nördlichen Hemisphäre. Ähnliche Veränderungen im Verhalten, in der Gestalt und Physiologie traten auf – ein Prozess, der parallele Evolution genannt wird.
Mutationen, die günstig für das Leben im Süßwasser sind, waren selten auch in Meerespopulationen zu finden. Sobald sie von der natürlichen Auslese begünstigt wurden, nahmen sie in den Süßwasserpopulationen überhand. „Forschung über dreistachlige Stichlinge hat in den vergangenen 20 Jahren zentrale Einsichten in die genetischen Grundlagen von paralleler Anpassung ermöglicht“, erklärt Felicity Jones, die Forschungsgruppenleiterin am Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft in Tübingen ist. „Anpassung kann durch neu auftretende Mutationen stattfinden, aber oft werden auch bereits bestehende genetische Varianten wiederverwendet und in der Population weiterverbreitet.“
Fischknochen aus den Sedimenten von einstigen Meeren
Üblicherweise untersucht man die evolutionäre Anpassung von Stichlingen, indem man heutige Süßwasserstichlinge mit Salzwasserstichlingen vergleicht. Dieses Vorgehen fußt auf der Annahme, dass die Population heutiger Meeresstichlinge gut die Vorfahren der Süßwasserstichlinge repräsentiert. Doch auch Meeresstichlinge haben sich weiterentwickelt, sodass die heutigen Populationen sich in wichtigen Aspekten von denen unterscheiden könnten, die ursprünglich die Süßwasserseen besiedelten. Aus diesem Grund vergleichen die Forschenden in dieser Studie die Genome der heutigen Stichlinge direkt mit denen ihrer Vorfahren, die damals dieselben Süßwasserseen besiedelten.
Die von der Forschungsgruppe verwendeten prähistorischen Fischknochen haben selbst eine interessante Geschichte. Norwegische Geologen und Geologinnen waren auf einer Forschungsmission zur Untersuchung der Geschichte der Meeresspiegelveränderungen anhand von Sedimenten im hohen Norden Norwegens unterwegs und entdeckten die Knochen zufällig in Bohrkernen von küstennahen Seen. „Die Fischknochen aus den Sedimentproben waren verblüffend gut erhalten und wir konnten sie sofort dem dreistachligen Stichling zuordnen“, sagt Anders Romundset, von Geological Survey of Norway. „Wir haben das Alter der Knochen bestimmt, indem wir die in denselben stratigraphischen Niveaus eingeschlossenen Landpflanzen mittels der Radiokarbonmethode datiert haben. Die Stichlinge lebten und starben in Brackwasser, zu der Zeit, als die Seen fast schon ihre Verbindung zum Meer verloren“, erklärt der Geologe.
Die ehemals im Meer lebenden Fische wurden in vom Meer isolierten Seen eingeschlossen, die durch eine starke Landhebung entstanden. Die Stichlinge verschwanden jedoch nie aus den Seen: Sie passten sich den neuen Gegebenheiten an. Die Bohrkerne aus Sedimenten sind also evolutionäre „Zeitmaschinen”, die Zugang zu den Vorfahren der heutigen Stichlinge in den Seen ermöglichen.
Der glückliche Fund der Knochen bietet erstmalig Gelegenheit, die Genomsequenzen der frühen Besiedler dieser neu entstandenen Süßwasserseen zu untersuchen. „Obwohl die Stichlinge vor Tausenden von Jahren starben, als der Großteil Skandinaviens noch von einer riesigen Eisschicht bedeckt war, enthalten ihre Knochen immer noch DNA-Fragmente“, erklärt Andrew Foote von der Universität Bangor. „Diese Gensequenzen sind ein Fenster tief in die Vergangenheit und zu den frühen Stadien der Anpassung ans Süßwasser.“
Der rasante Fortschritt auf dem Gebiet der prähistorischen DNA hat die Grenzen des Möglichen bei der Sequenzierung längst verstorbener Organismen verschoben. Dennoch war es eine große Herausforderung, die DNA aus den winzigen Stichlingsknochen zu extrahieren. Foote suchte die Zusammenarbeit mit Tom Gilbert von der Universität Kopenhagen, um das hochmoderne Labor für prähistorische DNA und die von Gilberts Forschungsgruppe entwickelten Methoden zu nutzen. Dies stellte sich als perfekte Kombination heraus: Gemeinsam konnten die Forschenden die Genome der Stichlinge sequenzieren.
Ein Fenster zur Vergangenheit
Da die Knochen aus einer Sedimentschicht stammen, die den Übergang von Salz- zu Süßwasserhabitat repräsentiert, enthielten sie größtenteils die Genvarianten, die auf das Leben im Meerwasser ausgelegt waren, aber auch manche Gene, die schon die Anpassung ans Süßwasser zeigen. „Es ist wirklich bemerkenswert, dass wir schon in einem einzigen, aus dem Meer stammenden Besiedler Varianten entdecken konnten, die auf das Leben im Süßwasser angepasst sind“, betont die Erstautorin der Studie Melanie Kirch, die in Jones‘ Forschungsgruppe arbeitet. „Das zeigt, dass die auf Süßwasser angepassten Genvarianten bereits in der Stichlingspopulation vorhanden waren, als sie vor Tausenden von Jahren begonnen, die Süßwasserseen zu besiedeln.“ Doch Kirch warnt zur Vorsicht: „Obwohl die ersten Besiedler, die Vorfahren der heutigen Stichlinge, diese Genvarianten besaßen, sind diese nicht mehr unbedingt in der heutigen Population vorhanden. Das unterstützt die These, dass sogar vorteilhafte Varianten im Laufe der Evolution verloren gehen können, vermutlich rein zufällig – ein Prozess, der als ,genetischer Drift‘ bekannt ist.“
Alte Genome öffnen ein Fenster in die Vergangenheit und ermöglichen es uns, direkt die genetische Ausstattung von Vorfahren heutiger Lebewesen zu untersuchen, deren Anpassung über Zeiträume von Tausenden von Jahren zu verfolgen und den Evolutionsprozess besser zu verstehen. Sie erlauben es Biologinnen, ihre Modelle zu verbessern und Einsicht in Faktoren zu erlangen, die die Richtung, Geschwindigkeit und die molekulare Basis der Evolution ,in freier Wildbahn‘ beeinflussen.